Alte Brennerstrasse im Morgengrauen


Völlige Stille, stockfinstere Nacht, es ist 4:30h. Schon seit über 2 Stunden bin ich nun unterwegs, habe gerade Innsbruck durchquert und die ersten steilen Kilometer auf der alten Brennerstrasse hinter mich gebracht. Mein Blick schweift zurück. Zu meinen Füßen umhüllt von Dunkelheit liegen die Lichter der Stadt, deutlich sind die Umrisse der beleuchteten Straßen zu erkennen, die die Stadt zu ordnen und zu begrenzen scheint. Fast schon bedrohlich klingt die Ruhe und die mich umgebende Nacht. Noch einmal lasse ich die frische Bergluft tief durch meine Lungenflügel fließen, bevor ich wieder den Helm überstreife und den noch warmen V2 durch einen kurzen Druck auf den roten Knopf erneut zum Leben erwecke. Wie ein Blitz durchdringt das dumpfe Grollen die Nacht, das Echo wie ein Trompetenchor. Der Scheinwerfer verdrängt die Dunkelheit als wolle er sie zerteilen und dennoch überwältigt sie mich auf der kurvenreichen Straße und zwingt das Tempo zu drosseln. Wie ein Lindwurm schlängelt sich die Straße immer weiter nach oben. Es wird zunehmend kälter und ich spüre die feuchte Luft durch jede Ritze in meine Kleidung eindringen.

Die Straße verlangt Mensch und Maschine einiges ab, Beschleunigen, gefolgt von kurzem Abbremsen durchgleite ich in Schräglage die Kurven, erklimme so Meter für Meter. Kurze Lastwechsel, gefolgt vom Grollen des Motors beim öffnen der Drosselklappen. Gerade diese Bewegung der Maschine hat einen komplexen Rhythmus. Viele verschiedene Pulse schlagen gleichzeitig. Die Grundlage ist der Zweizylinder mit seinem feinen Zusammenklang von Geräuschen. Hundertsechzig Explosionen pro Sekunde, Kolben auf Pleuel, Pleuel auf Kurbelwelle, Kurbelwelle auf Steuerkette, Steuerkette auf Nockenwelle, Nocken auf Stößel, Stößel auf Ventile, Ventile auf Ventilsitze, Kugellager drehen sich rasend schnell, Zahnräder greifen und schlagen in Öl, Ölpumpen pulsieren, Gase zischen, Ketten peitschen über Zähne. All das in rasender Bewegung, erstaunlich dass es auch nur eine Minute andauern kann und doch muss es noch viele Stunden andauern um mich an mein Ziel zu bringen.

Doch durch all diese Schläge, Pulse und Geräusche, die sich mischen und verwischen höre ich, so scheint es einen langsamen und steten Rhythmus, auf und nieder, auf und nieder, drei Halbtöne getrennt, eine Sekunde auf, eine Sekunde nieder. Je länger ich hinhöre, desto deutlicher wird es, zweifellos. Ist dieser Rhythmus da oder bilde ich ihn mir nur ein? Ist es der Pulsschlag meines eigenen Körpers, der den Klang aufnimmt, ihn mit meinem Kreislauf koppelt? Wie sehr ich es auch versuche, einen anderen Pulsschlag kann ich nicht hören. Es gibt aber auch noch andere Instrumente im Orchester. Die zierlichen Spiegel, stimmen bei jedem Beschleunigen hohe Töne an, vibrieren als wollten sie dem Motorrad Flügel verleihen und zum Abheben bringen. Auch durch die Fußrasten und Lenker fühle ich dieses Zittern, wie ein Bass beim Beschleunigen, laute Schläge wie von einer Pauke beim abbremsen. Bodenwellen ruckeln leicht als wollten sie mich zur Vorsicht ermahnen.

Immer weiter erklimme ich so die einsame Passstraße, passiere Dörfer die wie ausgestorben wirken, der Schall reflektiert an den Hauswänden. Dann endlich, langsam verfärbt sich der Himmel leicht, gibt die Konturen mächtiger Berge, die mich bedrohlich umringen zu scheinen, frei. Immer schneller geht es nach oben, der Morgenröte am Horizont entgegen. Aus Schatten werden nun Umrisse, zunächst unscharf und verschwommen, verformen sie sich und setzen sich so langsam zu einem Bild zusammen, bis mich schließlich zwischen den noch langen Schatten der erste Sonnenstrahl berührt, mich mit seinem warmen Licht willkommen heißt. Endlich am höchsten Punkt angekommen sehe ich die Sonne den Horizont erklimmen, einen neuen Tag erwachen. Nun ist es Zeit kurz inne zu halten, Mensch und Maschine einen kleinen Augenblick der Ruhe zu gönnen. Die Stille wird nun übertönt durch das Zwitschern der Vögel, die den Tag begrüßen. Ganz verdrängt ist die Dunkelheit vom Glitzern des Morgentaus auf den Wiesen und das Leuchten gewaltiger Felswände rings herum, in denen sich das laute Brummen der Brennerautobahn reflektiert.

Noch immer ist es kühl, noch immer spüre ich die klamme Luft in meiner Kleidung, doch die bedrückende Stille der Dunkelheit scheint überwunden, bald schon wird die Sonne den Ton angeben und die Kälte endgültig verdrängen.

Meine Reise wird weitergehen, hinab, weg von den langen Schatten in den Sonnenschein. Schon zu Mittag werde ich die Sonne im weichen Sand der Adriaküste genießen können...